Eurodram-Hauptversammlung in Lissabon 2017

Das Hotel Sana Lisboa erhebt sich nicht weit vom Platz Marquis wie eine hohe Luxusfestung . Von meinem Fenster in der neunten Etage schaue ich zum letzten Mal über die Stadt im Stadteil Baixa mit den zahlreichen Baukränen und dem Tejo, über dem am Grunde des Tales, das er in die Hügel Lissabons geschnitten hat, ein leichter Dunstschleier liegt. Beiderseits entfaltet sich auf den Höhen die Stadt mit ihren schönen, alten Wohnhäusern, ihren barocken Kirchen und den pittoresken Stadtvierteln… Links kann man trotz der Entfernung genau die Wehrmauern des Kastells und die über seinen Zinnen wehenden Fahnen erkennen. An seinem Fuße liegt das Theater Taborda, das der Blick vergeblich für einen letzten Gruß sucht.

Drei Tage sind seit unserem Eintreffen zu dieser vierten Hauptversammlung des Eurodram-Netzwerkes vergangen und wie in den Jahren zuvor stellt sich die Frage, wie man von ihnen erzählen soll, wenn man mit einem Mindestmaß an Realismus den fleißigen Ernst unserer Treffen wiedergeben und sich gleichzeitig von der durchdringenden Poesie des Ortes leiten lassen will. Im frühen Morgenlicht fühlt man sich, ehrlich gesagt, eher vom vagabundierenden Geist, vom unverwechselbaren Parfum der portugiesischen Hauptstadt bestimmt. Man kommt also nicht umhin, vom Alfama-Viertel und seinen steil abfallenden Gässchen zu sprechen, vom glattgelaufenen Pflaster, das dem Abstieg Geschwindigkeit verleiht. Ein öffentlicher Fahrstuhl, den man nach zufälligem Herumstreifen endlich entdeckt, kann den langen, gewundenen Aufstiegsweg verkürzen. Die Beine danken es.

Wenn man all die Bilder, die sich einstellen, an sich vorbeiziehen lässt, muss man unbedingt auch von den berühmten roten oder gelben Straßenbahnen sprechen, die wie seiltänzerische Spinnen an ihren Stromabnehmern hängen und sich auf ihren Schienen durch die geschlungenen Gassen mühen. Jedes ihrer Fenster gibt dem frohen Gesicht eines Besuchers einen Rahmen, stellt ihn in perfekter Reihe neben den nächsten und schalkhaft entsteht das Bild eines Marionettentheaters. Das Verkehrsbild bestimmen auch schwarz-grüne Taxis und in langer Prozession Dreiräder, Lissaboner Verwandte der asiatischen Tuk-tuks, die auf der Suche nach touristischen Emotionen und vorprogrammierten Entdeckungen in großer Zahl durch das Labyrint der volkstümlichen Viertel streifen. Still fahren sie an heruntergekommenen Fassaden alter Wohnhäuser vorbei, deren Azuleiros sich zum Teil schon lösen und deren schmiedeeiserne Balkongeländer schon Rost angesetzt haben. Graffitis und Tags machen sich auf dachlosen Ruinen alter Gebäude ohne Türrahmen breit.

In Erinnerung sind aber auch beeindruckende Bauwerke, die zu besichtigen die Zeit fehlt, oder das nüchtern weiß-schwarze Mosaik des Pflasters, das Gehsteige und Plätze schmückt und dessen spiegelnder Glanz bei Einbruch der Nacht den Eindruck erweckt, es hätte geregnet. Für die Liebhaber guter Küche sei auch an die Fischrestaurants erinnert, an gegrillten Fisch, die legendären Sardinen, den mit allen Saucen Portugals marinierten Kabeljau oder an die Pasteis de natas, jene Cremetörtchen, echte Spezialitäten einer jeden Konditorei der Stadt. In Lissabon, das steht fest, steigt man hoch oder man steigt runter und man läuft sich die Sohlen ab. Aber am Ende einer solchen Wanderung drängt sich nur eine Frage auf: Wie sollte man Lissabon nicht lieben?

Dieselbe Frage stellt sich auch für das Theater Taborda. Wie sollte man dieses unglaubliche Theater hoch am Hang nicht lieben, dessen Glasfronten sich über vier Etagen auf den Ebenen der Cafeteria und der Versammlungssäle auf das unerwartete Panorama der Altstadt hin öffnen? Wie nicht den Empfang genießen, den Maria und Carolina uns bereiten? Nach Pristina, Sofia und Istanbul freuen wir uns über das Wiedersehen und darüber, dass die Dinge sich gut entwickeln. Dass die geduldig zusammengeführten Energien (fast) ohne äußere finanzielle Unterstützung und unabhängig von den Institutionen ein wirkliches Netzwerk über die Grenzen hinweg aufbauen.
Donnerstag, 21. September

Gehen wir drei Tage zurück. Alles fängt im Aerobus an, ich treffe Jeton, den Koordinator des albanischen Komitees. Der Zufall wollte, dass wir im selben Flugzeug saßen und die Freundschaft, dass wir den weiteren Weg zusammen zurücklegten. Wir sind also im Aerobus, dem Flughafenshuttle, und entdecken ein modernes Stadtbild, das nichts mit den oben beschriebenen Bildern zu tun hat. Es ist beinahe 17 Uhr und wir werden wohl zu spät beim ersten Treffen der Hauptversammlung eintreffen. Vorher müssen wir ja noch das Hotel ausfindig machen, die Hotelformalitäten erledigen, unsere Koffer abstellen und mit Hilfe eines freundlichen Portiers ein Taxi finden. Dies nimmt uns durch ein mehr oder weniger steiles Straßenlabyrint mit, setzt uns ab und nun stehen wir etwas verloren vor der Tür eines Gebäudes, das auf den ersten Blick nicht wie ein Theater aussieht.

Die Versammlung hat vor geraumer Zeit begonnen und jetzt ist gerade Pause. Deshalb haben sich alle Teilnehmer in die zwei Etagen tiefer gelegene Cafeteria begeben. Tee, Kaffee, Gebäck, Korbsessel, Raucherterrasse und Begrüßungen. Die einfache Freude des Sich-in-den-Arm-Nehmens und des Begrüßungslächelns. Dominique ist natürlich da, der Koordinator des Gesamtnetzwerks, unsere portugiesischen Gastgeberinnen Maria und Caroline und die Vertreter mehrerer Sprachenkomitees, die ich vielleicht nicht alle aufzählen kann: Wolfgang, Nicole und Henning vom deutschsprachigen Komitee, Frédéric vom italienischen, Hakan, unser Gastgeber des letzten Jahres in Istanbul, Lilach und Nohar vom hebräischen Komitee, Sarah vom englischen, Gergana und Vasilena vom bulgarischen, Amin vom arabischen und Tiana, die neue Koordinatorin des BCMS-Komitees… bestimmt habe ich jemanden vergessen. Nur Ulrike und Anna scheinen zu fehlen, sie kommen später.

Nach der Pause wird die Versammlung im großen und hellen Versammlungsraum fortgesetzt. Es geht darum, in knapper Form die in jedem Komitee gewählten drei Stücke des letzten Durchgangs vorzustellen. Jedes Komitee hat dafür fünf Minuten Zeit, es gibt zudem eine schriftliche Zusammenfassung. Auch die Auswahlmethoden sollen beschrieben, die Kriterien und eventuellen Schwierigkeiten erläutert werden. Natürlich reichen manchmal die fünf Minuten nicht oder es kommen auch Fragen auf… Dennoch zieht sich die Versammlung nicht in die Länge, denn das Abendprogramm zwingt zur Einhaltung der Zeiten.

Zunächst erwartet uns ein Willkommensbuffet in der Cafeteria. Hier kann man mit Freunden über mehr oder weniger wichtige Themen plaudern, vielleicht mehr als nötig den portugiesischen Weißwein genießen und sich durch die Fenster vom Stadtpanorama verzaubern lassen, in dem wir trotz Anstrengung unseren Weg hierher nicht sicher ausmachen können. Dann folgt in einem Saal der oberen Etage eine öffentliche Lesung. Drei Schauspielerinnen, darunter Maria, stellen Cindirella vor, ein bulgarisches Stück von Gergana in der portugiesischen Übersetzung. Es fällt nicht leicht, dem fremden Sprachfluss zu folgen, aber die Energie der drei Vorleserinnen vermittelt Emotionen, zumal sie einige Requisiten einsetzen, die der Lesung einen spielerischen Charakter verleihen und auch vom Tisch aufstehen und dem Publikum Fotos von Frauengestalten zeigen. Die Sprachmelodie tut dem Ohr gut. Und obwohl man nicht wirklich etwas versteht, lässt man sich ohne Langeweile oder Bedauern gerne verführen.

Nach der Lektüre warten wir auf ein Taxi, das uns zum Hotel bringen soll, und da spricht uns ein junger Mann auf Französisch an: „Haben Sie etwas verstanden?“ Unsere Antwort überrascht ihn nicht und wir kommen ins Gespräch. Der junge Mann aus der Ukraine bereitet sich an der Lissaboner Universität auf seine Masterprüfung als Übersetzer vor. Lange Jahre seiner Kindheit hat er in Angola verbracht und hat dort dort das französische Gymnasium besucht, daher seine Kenntnis der drei Sprachen. Da er mit dem Auto des Vaters hierhergekommen ist, schlägt er uns freundlich vor, uns zum Hotel zurückzufahren. Und so erleben wir mit Hilfe seines Navis unsere erste nächtliche Spazierfahrt durch Lissabon.

 

Freitag, 22. September

Wir sind früh aufgestanden, uns erwartet ein langer Arbeitstag. Im Frühstücksraum im zweiten Untergeschoss des Hotels haben sich die Eurodram-KoordinatorInnen an zwei oder drei Tischen eingefunden und nicht alle Gespräche sind rein professioneller Art. Der Raum ist überfüllt mit Touristen in Shorts und Sommerkleidung, das ständige Hin und Her der Kellner und das vielfältige Angebot in den gekühlten Vitrinen laden ein, uns einen kurzen Augenblick der Entspannung zu gönnen.

Weil wir ein bisschen Luft schnappen und die Stadt erfahren wollen, beschließen Frédéric und ich, zu Fuß zum Theater zu gehen. Eine gute halbe Stunde Gehzeit, wir gehen die Avenue de la Liberté in ihrer ganzen Länge hinunter.

Auf dem Platz des Restauradores treffen wir Henning und seine Frau, die gerade aus einer Metrostation kommen. Aufs Geratewohl biegen wir in eines der kleinen Treppengässchen, die zum Castelo hochführen. Dieses Mal erscheint mir der Fußweg sehr viel einfacher als der von gestern, bei dem ich ganz die Orientierung verloren hatte.

Das erste Treffen am Morgen um 10 Uhr findet wieder im Raum von gestern statt. Heute geht es darum, wie die einzelnen Komitees arbeiten, was erreicht wurde und was nicht, um unterschiedliche Probleme, um Projekte und Erwartungen. Eine notwendige Bestandsaufnahme. Sie mündet in eine lange Diskussion darüber, was jedes Komitee tun muss und um die Möglichkeiten, sich im Netzwerk gegenseitig zu helfen.

Verspätete Mittagspause. Wolfgang hat ein kleines Restaurant im Barrio Alto ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß vom Theater entdeckt und schlägt uns vor, uns hinzuführen. Er erklärt es uns so überzeugend, dass Frédéric und ich Lust haben, mitzugehen, obwohl wir wenig Zeit haben. Wir bedauern es nicht. Die Gaststätte ist eines jener unaufdringlichen Speiselokale, in dem nur Bewohner des Viertels, Arbeiter und Angestellte essen, und das Angebot ist reichhaltig und authentisch. Das Preis-Leistungsverhältnis ist unschlagbar günstig und hier spüren wir wirklich, dass wir in einem anderen Land sind. Mit vollem Bauch marschieren wir zügig zum Theater zurück und dieses Mal ist der öffentliche Aufzug sehr willkommen.

Den ganzen Nachmittag setzen wir den Meinungsaustausch fort, aber wir wissen, dass wir den Raum um 19 Uhr für eine weitere Lesung verlassen müssen. Wir fassen uns kürzer, sind aber nicht weniger produktiv. Es geht hauptsächlich darum, wie wir das Netzwerk effektiver gestalten und ausweiten können: neue Komitees bilden, Austausch und Übersetzungen fördern, sich mehr um die weniger aktiven Komitees kümmern…

Meine Fähigkeit, all den Diskussionen auf Englisch aufmerksam zu folgen, sind jetzt doch stark in Mitleidenschaft gezogen und Viviane, die mich in der Cafeteria am Tresen erwartet, und ich beschließen, den Abend für uns zu nutzen und am Tejo entlangzuspazieren, auch wenn uns dort vielleicht einer der Werber für ein Restaurant abfängt. Und genau dies geschieht auch.

In der milden Nacht Lissabons gehen wir zurück zum Hotel. Auf dem Platz Rossio wird vor der Quelle und den schönen, beleuchteten Satuen eine Modenschau aufgebaut und am Teatro National Dona Maria kündigt ein Plakat die Aufführung von König Lear an.

Samstag, 23. September

Bei einem kurzen Gespräch in einem kleinen Bistrot gegenüber dem Theater sage ich Dominique und Ulrike, dass ich an der Besprechung am Morgen über Finanzangelegenheiten nicht teilnehmen werde, weil ich unter vier Augen mit Amin sprechen möchte, der bei der Organisation seines arabischen Komitees einige Schwierigkeiten bewältigen muss. Amin nimmt die Einladung an und wir treffen uns in der Cafeteria. Wir versuchen herauszufinden, wie ich ihm helfen kann, wie wir in einigen Punkten Klarheit bekommen können und ich sogar versuchen könnte, arabischsprachige Texte zu finden. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass viele Autoren aus dem Maghreb immer noch in französischer Sprache schreiben um ein größeres Publikum zu erreichen und die Zensur zu umgehen, die in ihren Ländern häufig eine Behinderung darstellt. Unser Gespräch ist offen und heiter, man spürt nicht die Spannungen, die immer wieder bei der generellen Aussprache auftreten.
Dieses Mal ist die Mittagspause wirklich zu kurz, um noch einmal in unserer Arbeiterkantine im Barrio Alto zu Mittag zu essen und viele von uns entscheiden sich für das nächstgelegene Restaurant mit internationaler Bioküche. Zitronensaft und heißes Tabulé, Bedienung in Zeitlupe, etwas zurückhaltende, aber doch entspannte Stimmung. Ganz anders als die geschäftige Belebtheit des Vortages.

Die letzte Arbeitssitzung am Nachmittag befasst sich mit der nächsten Hauptversammlung, die auf Einladung von Lillah und dem hebräischen Komitee in Tel Aviv stattfinden soll. Und dann, vor einem Vortrag auf portugiesisch und englisch über Theaterübersetzung, der traditionelle Fototermin auf der Terrasse. Das Lächeln und die Gesichter spiegeln die allgemeine Zufriedenheit und die Freude der Mitglieder über die Fortschritte des Eurodram-Netzwerkes.

Dann schlendere ich noch einmal durch das Viertel um noch einige Bilder für diese Chronik einzufangen. Die frische Luft des anbrechenden Abends weht unter den Bäumen an den hohen Burgmauern und den Kaffeeaussichtsterrassen in den milden Strahlen der untergehenden Sonne und alle Sprachen vermischen sich in der Trunkenheit entweder eines Vino verde oder einer lokalen Biermarke. Unten auf dem Tejo ertönt das Nebelhorn eines Kreuzfahrtschiffes und ruft seine Passagiere zurück an Bord. Unser kleine Touristenrunde findet ihr Ende vor einem Teller mit gegrilltem Kabeljau bei romatischem Sonnenuntergangspanorama im Restaurant Chapitô.
Der Abend geht weiter mit der Aufführung des Schauspiels Ella diz durch das Teatro da Garagem. Entscheidungsdialoge zwischen Mutter und Tochter. Die Titelüberschriften beschwören eine herb metaphysische Atmosphäre vor dem Hintergrund des Todes der Mutter. Ich weiß nicht warum, aber ich muss an Nathalie Sarraute denken. Eher aber noch an Marguerite Duras wegen der Wiederholung der Einbettung „Sie sagt“ bei jeder Aussage.

Zum Hotel geht es wieder zu Fuß zurück in Begleitung Sarahs, der englischen Koordinatorin.

 

Gilles Boulan

Übersetzung: Wolfgang Barth

 

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